– eine chroerographische Installation von Regina Rossi
Premiere am 25.04.2019 auf Kampnagel, Hamburg
Labia Majora
Das Publikum bahnt sich den Weg durch ein Labyrinth aus hellroten Stoffbahnen hinein in die Fabrikhalle von Kampnagel. Die Premiere der choreographischen Installation von Regina Rossi und ihrem Team ist restlos ausverkauft. Der Auftakt von 2lips bereitet uns sanft darauf vor, dass wir in den kommenden ein-einhalb Stunden immer wieder unseren Platz und die Perspektive wechseln werden. Auf Socken durchstreift das Publikum den Raum, hat Zeit sich umzuschauen und in die mystische Atmosphäre einzutauchen.
Once upon a time… – Der erste Akt
Die Performerinnen treten nacheinander auf, mit nichts als hippen Kniestrümpfen bekleidet. Schnell thronen sie nebeneinander, zerfließen in den schwarzen Sitzkissen. Ein Aktbild. 6 nackte Frauenkörper. Dazu eine lange Liste, gesprochen von Annika Scharm: Once upon a time… beginnen die Sätze.. I would spread my lips and start talking.
Das Publikum versammelt sich zu ihren Füßen, beobachtet die Performerinnen dabei, wie sie aus ihren Körpern eine Vulva formen: Sie werden zu äußeren und inneren Lippen, Venushügel oder Klitoris. Vulva werden ist mehr als Entblößung.
Bis diese dreidimensionalen Bilder zerfallen. Dann locken uns die Frauen zu anderen Schauplätzen. Bei den Spiegeltischen stehen glibschige Deko-Kugeln in Glasschalen. Hier untersuchen zwei der Akteur*innen spielerisch ihre Körper auf Qualitäten der Vulva, suchen nach Faltigem im Fleisch ihrer Arme und Beine und schmieren sich feucht.
Creative, shy, powerful, soft.
Weiter hinten im Raum baumeln Kopfhörer an Kabeln von der Decke. Eine Stimme leitet uns durch die Komplexität der Genitale. Mit Haut, Haaren und Fleisch. Die Audiostation bietet eine kleine Anatomie der Vulva. Die Sprecherin akkumuliert nach und nach ihre Elemente und Eigenschaften – so ist sie, und so auch – gibt uns Begriffe an die Hand und fordert dazu auf, über die Sprache als politisches Werkzeug nachzudenken, das uns helfen kann, die Reduktion auf das Loch zu verweigern. Denn: Die Öffnung der Vagina habe historisch betrachtet am meisten Aufmerksamkeit erfahren. Nur keine Scheu. Sagt Vulvalippen. Denn wofür sollten wir uns schämen. Nicht für diese Schönheit, nicht für das Feuchte, Schleimige, Sensible.
Lippenbekenntnisse
2lips feiert die Vulva in ihrer Vielfalt, ihre Kraft und Sensibilität, will die Komplexität dieser Geschlechtsorgane sichtbar machen und das, was sonst verdrängt oder versteckt wird – den schambehafteten, lustvollen Körperbereich. Dazu greift das Team um Rossi tief in die Kulturgeschichte. Die Performance sprüht vor Referenzen, die ich aber selten als solche erkenne. Die Performer*innen erzählen von Gottheiten aus hinduistischer, griechischer und keltischer Mythologie und verbinden diese mit persönlichen Erlebnissen. Und fast immer wirken sie geschützt, trotz der Nacktheit. Es entstehen keine peinlichen Momente. Nie kommt ihre Haltung provokant daher. Und auch das Publikum agiert sehr respektvoll, starrt nicht, sondern schaut neugierig und erlebt.
Mich reizen eher die abstrakten Momente als die informativen. Ich wechsle meine Position immer wieder, gehe näher ran, wenn Dani Brown zur keltischen Göttin Morrigan wird und sitze hypnotisiert vor dem silbrigen spiegelnden Dreieck, beobachte die ritualisierten, wiederkehrenden Bewegungssequenzen. Die choreographische Arbeit ist mal inspiriert von Nackt-Tänzen und Strips à la Gypsy Rose Lee und Georgia Sothern, wirken andernorts dann wieder wie zeitgenössische Bewegungsstudie zu Falten. Ich bin fasziniert und genieße das Immersive, verliere (kritische) Distanz.
Fierce, erotic and hyper-fucking intelligent
Immer wieder wird das Publikum eingefangen und die Aufmerksamkeit auf eine Szene gelenkt. Wie etwa auf den Catwalk, mit pelzigen Jacken und untenrum frei.. sexy and cheerful! Oder das Beckenbodentauziehen von Sophia Guttenhöfer und Mathilde Monier, die sich nach dem Wettkampf kollegial in die Arme fallen. Menstruation und Befruchtung sind humorvoll und überraschend in kleine Szenen übersetzt, in denen die Vulva direkt zu uns spricht (performt von Kianí del Valle), uns durch den Raum scheucht und ihre klebrige hellrote Substanz in die Hand spuckt oder die Spermien in ihre Höhle hineinrekrutiert (Bühne und Kostüm: Lani Tran Duc und Doris Margarete Schmidt).
Das Stück schwingt von einer mystischen Grundstimmung in humorvolle Sequenzen und informative Stationen. Der Abend ist dynamisch, fließt weich und einladend dahin (Dramaturgie Greta Granderath). Getragen wird er von Klängen, die mich in die Tiefe locken (Sound Katharina Pelosi). Es klingt nach Meer, aber nicht nach Klischeewellenrauschen. Und dort, hinter den roten Vorhängen, liegt eine Meerjungfrau und träumt davon Beine zu haben, und vielleicht auch ihre eigene Sexualität.
Zwischen magisch und vertraut-familiär lässt 2lips eine heilige Stätte mit Wohnzimmeratmosphäre entstehen. Zu Informativ und spielerisch um nur Erotikprogramm zu sein, zu humorvoll und liebevoll um entrückt und weltfremd zu sein. In der Aura des Erhabenen ist Platz für obszöne Witze. 2lips hebt den Rock, tut es Baubo gleich, die ihre Vulva entblößt um Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit aufzumuntern.
Ich schaue an meinem Körper hinunter, sitze nur in ein Handtuch gewickelt auf dem Sofa, den Lap-top auf dem Schoß – das schien mir irgendwie angemessen, die Kritik gemeinsam mit meiner Vulva zu schreiben – und bin fasziniert von der Vorstellung, dass dieses Geschlechtsorgan den Teufel vertreiben kann.
Perle, Muschi, Mandel.
Das Team um Regina Rossi schafft einen sinnlichen Abend, der manchmal fast zu schön ist. Und ich frage mich, ob es nicht dreckiger zugehen müsste. Vielleicht geht es aber gerade darum, vom Pornographischen wegzukommen, und bewusst den Fokus auf die verdrängte Schönheit der Genitale zu legen. So endet auch die Entdeckung rund um die Kulturgeschichte der Vulva, während die Performerinnen Mandeln kauen: Ich bin Fotze, aber ihr könnt mich Vulva nennen.
– Heike Bröckerhoff | April/Mai 2019
Fotos: Anja Beutler